Nils Goldschmidt | 24.05.20222
Die Grenzen des Wachstums:
Radikale Probleme brauchen nur selten radikale Lösungen
Die Grenzen des Wachstums, wie wir es kennen, sind uns mittlerweile allen bewusst. Der jüngste Bericht des Weltklimarates IPCC führt das erneut und eindrücklich vor Augen. Auf mehr als 3.500 Seiten werden die dramatischen Folgen der Erderwärmung für das Klima, für unsere Ökosysteme und unser gesellschaftliches Zusammenleben deutlich und unmissverständlich beschrieben: Extreme Wetterereignisse wie Überflutungen und Hitzewellen werden zunehmen, mit massiven Auswirkungen auf die Tier- und Pflanzenwelt, einhergehend mit kräftigen ökonomischen Verwerfungen zwischen und innerhalb von Staaten. Dass auch hochentwickelte Industrienationen von den Folgen der Klimaveränderung in dramatischer Weise betroffen sein werden – und schon heute betroffen sind – hat die Hochwasserkatastrophe vom Juli 2021 an Ahr und Erft sowie im Sauerland uns allen in erschreckender Weise gezeigt.
Simulationen, Prognosen und Modelle gehören zum etablierten Handwerkszeug der Klimaforschung. Vor 50 Jahren, im Jahr 1972, im Auftrag des Club of Rome und finanziert durch die VolkswagenStiftung, erschien die Studie „The Limits of Growth“ der jungen US-Amerikaner Donella und Dennis Meadows, des Norwegers Jørgen Randers und deren Projektteam am Massachusetts Institute of Technology (MIT) – der wohl erste umfassende und vor allem öffentlichkeitswirksame Versuch, das Zusammenspiel von Bevölkerungswachstum, Nahrungs- und Ressourcenverbrauch, Industrieproduktion und Verschmutzung der Umwelt in Beziehung zu setzen und mittels eines Computermodells zu simulieren.
„Es ging weniger um konkrete Voraussagen, sondern um mögliche Prognosen auf der Grundlage bestehenden Wissens.“
Das Ergebnis war erschütternd: Die Möglichkeiten des industriellen Wachstums sind begrenzt – eine Lebensweise wie bisher werde zum Kollaps führen. Die Szenarien dieser Studie wurden vielfach kritisiert und auch nicht selten missverstanden. Es ging weniger um konkrete Voraussagen, sondern um mögliche Prognosen auf der Grundlage bestehenden Wissens. Aber, in der Tat, einige Annahmen und Argumente der Forschenden luden zu Fehlinterpretationen und auch zu manchem berechtigten Einwand ein.
Effekte des Berichts
Bei aller Kritik im Detail – so zum Beispiel Trends weitgehend gradlinig aus der Vergangenheit weiterfortzuschreiben und eine gewisse neomalthusianische Weltsicht zumindest implizit einzunehmen – haben „Die Grenzen des Wachstums“ wohl wesentlich dazu beigetragen, dass ökologische Fragestellungen in Öffentlichkeit und Politik angekommen sind. An die Stelle des Fortschrittsoptimismus der 1950er und 1960er Jahre, verstärkt auch durch die erste Ölkrise 1973, trat eine weitaus zurückhaltendere Sicht darauf, inwieweit technische Lösungen überhaupt in der Lage sind, die drängenden Probleme der Moderne zu lösen – eine Hoffnung aber, die konservative Kreise noch immer gerne ins Feld führen.
Bei allen Verdiensten der Studie im Auftrag des Club of Rome hat sie aber umweltpolitischen Diskussionen in den letzten 50 Jahren auch ein Problem hinterlassen, das sicher nicht intendiert war, aber bis heute ein wesentliches Hindernis in einem effektiven und nachhaltigen Umgang mit ökologischen Herausforderungen ist. Berichte über dramatische Veränderungen von Ökosystemen rufen zumeist zwei Reaktionen hervor: Entweder es wird ein radikaler Wandel angesichts der offensichtlichen radikalen Probleme gefordert – oder man stellt in Abrede, dass die aufgezeigten Konsequenzen in der dargestellten Dramatik auftreten werden. Letzteres war lange Zeit die Reaktion auf „Die Grenzen des Wachstums“ mit dem Verweis auf bislang unentdeckte, aber vorhandene weitere Ressourcen. Um diese Position ist es ruhiger geworden. Mittlerweile ist den meisten Menschen klar geworden, dass unabhängig von den vorhandenen Rohstoffmengen der Verbrauch systematisch abnehmen muss. Wie das erreicht werden kann, ist aber die schwierige Frage.
Radikaler Wandel oder hedonistische Tretmühle?
Vielen erscheint es einleuchtend, dass nur noch ein rascher, radikaler Wechsel unserer Lebensweise die Rettung vor dem drohenden Kollaps bietet. Dieser radikale Wandel muss – so die eindringliche Mahnung von Postwachstumsökonomen – vor allem auch weitreichende Konsequenzen darauf haben, wie wir wirtschaften. Dies ist scheinbar zumindest aus drei Gründen geboten: Erstens führen immer weitreichendere Produktivitätssteigerungen zur Freisetzung von Kapazitäten, die es ermöglichen, nach weiteren Spezialisierungsmöglichkeiten zu suchen. Wenn man sich nicht mehr vorrangig um die eigene Basisversorgung kümmern muss, kann man beispielsweise anfangen, systematisch neue Geräte und Prozesse zu entwickeln. Dies verschlingt weitere Ressourcen und Energiemengen. Zweitens ist die Hoffnung, „grünes Wachstum“ zu erzeugen häufig trügerisch. Der Entkoppelung von Wachstum und Umweltbelastung sind in der Tat enge Grenzen gesetzt, und aufgrund zahlreicher technischer, ökonomischer und psychologischer ‚Reboundeffekte‘ dauerhaft eine Illusion. Drittens, so könnte man mit dem Ökonomen und Glücksforscher Matthias Binswanger konstatieren, befinden wir uns in einer „hedonistischen Tretmühle“: Wir strengen uns ständig an, damit wir unser Einkommen durch den nächsten Karriereschritt, das nächste Projekt erhöhen, aber der soziale Aufstieg gelingt nicht, da alle anderen um uns herum sich genauso verhalten. In der Summe steigen das Einkommen und der Verbrauch aller, aber unsere soziale Position ist im Wesentlichen dieselbe wie zuvor. Der Wachstumskritiker Niko Paech spricht hier vom „Fremdversorgersystem“, in das wir uns immer weiter verstricken; er fordert stattdessen eine „Befreiung vom Überfluss“.
„Die Aufforderung anders zu leben, kann allerdings schnell zur Überforderung werden – gerade für diejenigen, die schlechter gestellt sind.“
So richtig es ist, schrittweise unseren Lebensstil zu ändern, so behutsam sollte man doch mit einer Forderung nach einem radikalen Schnitt sein. In der Tat brauchen wir Diskussionen darüber, wie wir weniger verbrauchen können und wie eine genügsamere, vielleicht sogar entspanntere Lebensweise aussehen kann. Hierzu gehören Repair-Cafés genauso wie die Reduktion unserer Mobilität, die Rückführung von fossilen Rohstoffimporten und Renaturierung von Flächen. Die Aufforderung anders zu leben, kann allerdings schnell zur Überforderung werden – gerade für diejenigen, die innerhalb einer Gesellschaft, aber auch mit Blick auf die Weltgemeinschaft, schlechter gestellt sind. Kultur- und Lebenswandel kann man nicht verordnen – und er kostet Geld. Ein solcher Wandel muss von unten kommen, Vorbilder müssen vorangehen und andere mitnehmen. Zugleich wird eine ökologische Wende massive Verteilungsfragen hervorbringen, mit der Gefahr, dass ein nachhaltigerer Lebensstil als Projekt einer Elite wahrgenommen wird, die es sich leisten kann, abends einen Kleidertauschring zu organisieren oder sich zum Urban Gardening zu treffen, statt zu schauen, wie Familie und Job Tag für Tag in Einklang gebracht werden können. Es gibt gute Gründe skeptisch zu sein, dass das Vertrauen auf einen ‚von unten‘ getriebenen Kulturwandel ausreicht, um den ökologischen Problemen schnell und umfassend zu begegnen. Für viele übersteigt der eingeforderte radikale Wandel die eigenen Kräfte, was ohne entsprechende Rahmenbedingungen nur zu Frust und Fatalismus führt.
Politik der sachlichen Behutsamkeit
Hier setzt eine moderne Ordnungspolitik an. Statt darauf zu hoffen, dass die Menschen aus Einsicht ihr Leben ändern (wo dies geschieht, ist dies natürlich wünschenswert), ist es einfacher und effektiver die Regeln zu ändern. In der Sprache des Ökonomen geht es um Anreize, die Verhaltensänderungen aus eigenem Interesse induzieren. Natürlich – werden Skeptiker nun gleich einwenden – sind systematische Regeländerungen auf internationaler Ebene doch kaum möglich – aber ein globaler Gesinnungswandel ist vermutlich noch weniger wahrscheinlich.
Hierin liegt die Logik ökonomischer Steuerungsinstrumente wie die einer CO2-Steuer, aber auch eines Emissionshandels. Die Grundlogik ist die gleiche: Es geht um einen Preis für CO2, der einen Anreiz setzt, Emissionen zu reduzieren. Anfänge hierzu sind in Deutschland und vor allem durch das Europäische Emissionshandelssystem gemacht. Wenn Preissignale stark genug sind, wird dies auch zu grundlegenden Änderungen bei der Infrastruktur und beim Konsumverhalten führen. Aber: Es obliegt der freien Entscheidung von Bürgern und Konsumenten, wie genau sie sich im Einklang mit ihren eigenen Wünschen und Zielen mit den neuen Preissignalen arrangieren.
Wir haben in unserem neuesten Buch ein an das sogenannte „Schweizer Modell“ angelehntes System vorgeschlagen, das vor allem das untere Drittel der Einkommensbezieher entlastet und nach oben hin abgeschmolzen wird, gepaart mit dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs vor allem im ländlichen Raum und der Förderung der Wohngebäudedämmung. Ökonomische Vorschläge sind selten revolutionär und wirken nüchtern. Doch aufrüttelnde Reden erreichen häufig nur diejenigen, die die Botschaft hören wollen. Nicht zuletzt hat uns die Corona-Pandemie gelehrt, wie schwierig es ist, Menschen von offensichtlichen Maßnahmen wie einer Impfung zu überzeugen. Wie viel schwieriger wird dies bei komplexen ökologischen Fragen sein. Es ist an der Zeit, diese mit einer sachlichen Politik der Behutsamkeit – freilich nicht der Behäbigkeit – anzugehen. Vielleicht wird man so dem 50-jährigen Jubiläum der „Grenzen des Wachstums“ eher gerecht als radikalen Wandel zu predigen.